Als Kind dachte ich immer, dass „Schäfchen zählen“ eine Metapher dafür sei, sich stumpf in den Schlaf zu zählen. Nie hätte ich mir denken können, dass Menschen tatsächlich Schafe vor ihrem inneren Auge sehen.
Die Bilder meiner Kindheit
Es ist leicht zu glauben, dass unsere Wahrnehmung der Realität für alle gleich ist. Oft braucht es einen prägnanten Reiz, um uns zum Hinterfragen des Erlebten zu bringen. Meine erste bewusste Erinnerung daran stammt aus meiner Grundschulzeit.
Eine Lehrerin wollte mit uns eine Entspannungsübung machen: „Stellt euch einen Urlaubsort vor – wie ihr am Strand seid, das Meer seht und den Wind auf eurer Haut spürt.“
Ich saß da und fragte mich, was das Ganze soll. Kinder ruhig halten – okay. Aber warum auf diese Art? Niemand kann sich so etwas vorstellen. Zumindest dachte ich das eine lange Zeit.
Erst mit 16 erfuhr ich, dass es ungewöhnlich ist, es nicht zu können.
Aphantasia
Das Phänomen nennt sich Aphantasia. Es gibt verschiedene Ausprägungen: manche Menschen können keine Bilder sehen, andere keine Geräusche oder Gerüche in ihrer Vorstellung abrufen. Für Betroffene ist das normal, bis sie irgendwann feststellen, dass die meisten Menschen mit geschlossenen Augen nicht einfach nur Schwarz sehen (hier ein simpler Test).
Schätzungsweise sind nur etwa 4 % der Bevölkerung betroffen, doch diese Zahl könnte höher sein. Das Phänomen wurde zwar 1880 von Francis Galton das erste Mal beschrieben, doch bis 2015 interessierte sich kaum jemand dafür. Erst in den letzten Jahren hat die Forschung begonnen, sich intensiver mit dieser Merkwürdigkeit zu beschäftigen.
Es gibt zwar einige Studien zu der Thematik, jedoch sind sie noch voller Widersprüche, und klare Aussagen sind relativ schwierig zu tätigen. In Online-Diskussionen wird mit einigen Fakten umhergeworfen, die weder eindeutig bestätigt noch widerlegt sind. Aufgrund dessen werde ich hier keine Stellung zu diesen beziehen.
Was mich betrifft, träume ich interessanterweise in Bildern, obgleich nur einige Male im Jahr. Doch in meiner Vorstellung gibt es keine Bilder, keine Musik und auch keine Gerüche. Ich „erinnere“ mich zwar an diese, aber abspielen oder aufrufen kann ich nichts davon.
Träume geben mir nur einen Einblick, wie es wäre, sich willentlich Bilder vorstellen zu können.
Zudem gestaltet es sich schwierig anderen zu erklären, woher ich „weiß“ was ich meine.
Für mich ist es wie einen Wikipedia-Eintrag zu laden, sobald ich eine Assoziation habe, kann ich auf alle Gedankenmuster zu diesem Thema zugreifen.
Jeder Betroffene entwickelt seine eigenen Bewältigungsstrategien.
Wer mehr über solche Unterschiede erfahren möchte, dem lege ich das Buch Aphantasia ans Herz.
Auswirkungen
Die wohl größte Folge ist ein schlechtes autobiografisches Gedächtnis.
Das Meiste aus meinem Leben weiß ich kaum noch, gedanklich habe ich meine Biografie wie die wichtigsten Stichpunkte über irgendein Thema im Kopf.
Das ist wohl einer der Gründe, warum ich ein Wortmensch bin. Dieser Blog ist ein gutes Beispiel, ich nutze kaum Bilder, weil sie mir keinen visualisierenden Nutzen verschaffen.
Ich mache seit Jahren auch Musik und finde es faszinierend, dass Menschen sich Töne im Voraus vorstellen können. Das beeinträchtigt mich jedoch nicht in meiner Fähigkeit, mich musikalisch auszuleben.
Tagträumen ist für mich eine reine Erzählstunde in meinem Kopf, während „Kopfkino“ eine Metapher für eine negative Assoziation ist. Ohne Bild kein Kino, das konkludiert die Auswirkungen auf mein Leben schon.
Fazit
Abschließend möchte ich sagen, dass ich meinen Umstand nicht als Belastung empfinde, sondern als Besonderheit. Damit will ich natürlich sonst niemandem den erlebten Leidensdruck absprechen.
Vielleicht konntest du hiermit gar nichts anfangen oder hast sogar einen „Aha-Moment“ erlebt, weil du dich wiedererkannt hast. In beiden Fällen, bedenke immer die Alternative. Seine Mitmenschen verstehen zu lernen, ist eine Tugend, die wir fördern sollten.
Schreibe einen Kommentar