Cold Reading – Charakter

Mentalist*innen sind wahre Meister der Beinflussung. Scheinbar können diese ihr Gegenüber schon im ersten Gespräch vollständig lesen, mitsamt aller Gedanken und Tätigkeiten.
Obwohl sie eine Vielzahl an Techniken verwenden, möchte ich in diesem Beitrag über eine Spezielle sprechen, nämlich „Cold Reading“:

Cold Reading (engl. für „kalte Deutung“, auch sensory leakage) ist ursprünglich der von professionellen Zauberkünstlern und Mentalisten verwendete Fachausdruck für verschiedene Techniken, in interviewartigen Situationen ohne wirkliches Wissen über den Gesprächspartner bei diesem den Eindruck eines vorhandenen Wissens zu erwecken1

Alle Informationen habe ich aus dem Buch „The Full Facts Book of Cold Reading“ von Ian Rowland, ein fantastischer Autor mit sehr viel Material zu Cold Reading.
Ich bin kein Experte der Materie und möchte euch lediglich anregen, eine interessante Nische zu entdecken. Aus diesem Grund kann ich euch seine Bücher nur wärmstens ans Herz legen, da es auch Ausweich-Techniken nach Fehlschlägen, Anwendungsmöglichkeiten und Sonderfälle behandelt, die sich für das weitere Studium der Materie als unabdingbar erweisen.

Cold Reading ist ein super komplexes Thema (auch Körpersprache, Mimik und andere Beobachtungsmerkmale gelten als Unterthemen), deshalb werde ich nur einige rhetorische Teilaspekte in einer 4-teiligen Serie behandeln:

  1. Charakter <-
  2. Informationsgewinnung
  3. Zukunftsvorhersagen
  4. Fakten bzw. Ereignisse

Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass diese Techniken nicht zur Manipulation genutzt werden sollten, höchstens um sich vor diesen zu schützen.

Kommen wir also zunächst zu Aussagen, die dich wirken lassen, als würdest du den Charakter deines Gegenübers kennen.

Rainbow Ruse:
Eine Technik, die ihr vielleicht kennt, weil Bekannte von euch schon ähnliche Aussagen getätigt haben. „Du bist ruhig, aber manchmal überkommt dich die Lust aufgedreht zu sein.“ wäre ein übliches Beispiel. Wir nehmen die Eigenschaft und deren Umkehrung und verpacken sie in einen Satz. Dabei nehmen wir die rezessive Eigenschaft als Anti-These, um die Glaubwürdigkeit zu verstärken. Der Trick hierbei ist, dass niemand ausschließlich ein Extrem einer Eigenschaft aufweist und diese Aussage zwar unscheinbar, aber zwangsweise stimmt. Zudem funktioniert diese besser mit Eigenschaften, die schwer zu quantifizieren sind, weil dein Gegenüber sonst feste Gegenbeispiele suchen kann. Das gilt besonders für zeitliche Angaben.

Fine Flattery:
Die Technik beschreibt die Hervorhebung einer Eigenschaft im Gegensatz zum Umfeld des Gegenübers. „Du interessierst dich mehr für die Umwelt als der Durchschnitt, das merkt man schon…“ könnte man als Beispiel anführen. Damit wird der Anerkennungsdrang des Gegenübers angesprochen und selbst Aussagen, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen, entfalten ihre Wirkung.

Psychic Credit:
Hervorheben der Besonderheit des Individuums, indem beispielsweise ebenso das Potenzial der Kräfte anerkannt wird. Ein Medium könnte versuchen dem Gegenüber zu vermitteln, dass dieses ebenso mit Geistern sprechen könne: „Ich spüre bei dir ebenso eine leichte Affinität zum Übernatürlichen, sowas sehe ich nicht oft. Ach… ich bin mir nicht ganz sicher, ob es eine Gabe der Zukunftslesung oder eine Verbindung zum Reich der Toten ist.“

Jacques Statement:
Diese Technik beschreibt, dass man die typischen Probleme eines Menschen adressiert und dabei so wirkt, als wären die Aussagen auf das Gegenüber zugeschnitten. Tatsächlich meine Lieblingstechnik, weil man sich allerlei Probleme eines Menschen denken kann: unerfüllte Wünsche, Streitigkeiten mit den Eltern oder ungenutztes Talent. Eine typische Aussage wäre demnach: „Du bist frustriert, weil du weißt, dass du mehr könntest. Du lässt dich aber durch Zwischenmenschliches ablenken.“.

Lebenskrisen jedes Menschen

Ich kann dir, wie schon Ian Rowland an der Stelle angemerkt hat, nur das Buch „Passages“ von Gail Sheehy empfehlen, in dem sie strukturiert die Lebenskrisen bis zum 50. Lebensalter nicht nur auflistet, sondern weitgehend analytisch erklärt. Anscheinend gibt es noch ein Follow-Up-Buch „New Passages“, was ich bis dato noch nicht gelesen habe. Sollte ich das jemals tun, werde ich diesen Teil darum ergänzen.

Greener Grass:
Hierbei nutzt man die Faszination des Gegenübers für alternative Realitäten. Gedanken wie „Was ist, wenn ich studiert statt einer Ausbildung gemacht hätte?“ ereilen jeden von Zeit zu Zeit. Auch eine Unzufriedenheit mit der jetzigen Situation schwingt bei fast jedem mit. Menschen möchten oft genau das, was sie nicht haben. Eine sorgfältige Person will vielleicht chaotischer oder jemand Zuverlässiges mal unzuverlässig sein.

Sugar Lump:
Mit dieser Technik bietet man emotionale Bestätigung durch den Glauben an eine Aussage oder ein System. Hier ist besonders Vorsicht geboten, da Aussagen wie „Wie traurig wäre es, wenn deine verstorbenen Eltern mit dir reden möchten und du ihnen nicht zuhören möchtest?“ besonders manipulativ verwenden werden können. Zweifel sind negativ konnotiert und alle Menschen möchten akzeptiert sowie geliebt werden. Denkbar wären aber auch Aussagen wie „Du glaubst nicht an Zauberei, warum solltest du diesen Stein bewegen können?“ während einer Show. Hier also umbedingt auf den Kontext achten!

Barnum Statement:
Eine Technik, die sich den psychologischen „Barnum-Effekt“ zunutze macht, bei der generalisierte Charakterzüge von jedem Menschen auf sich selbst bezogen werden. Hier sind Horoskope wohl das deutlichste Beispiel. Interessanterweise lässt sich sowas auch kontextuell nutzen und Aussagen, wie „Du glaubst nicht sofort alles, was man dir erzählt. Du streitest die Sachen nicht direkt ab, sondern beäugst die Information zunächst kritisch.“ sind denkbar.
Prinzipiell ist es eine Art Framing, bei der man selbst anfängt, nach passenden Beispielen des Verhaltens zu suchen, um die Aussage zu bestätigen. Ein drastisches Beispiel wäre, dass dir ein jemand Bekanntes versucht hat, ein Pyramidensystem aufzuquatschen und du sofort abgelehnt hast. Ein Erfolg, der deinem Gegenüber einfallen könnte.

Alle Aussagen lassen sich rhetorisch natürlich besser kontextuell einbinden oder eben vielschichtig ausschmücken, um nicht nach Phrasendrescherei zu klingen. Für bessere Beispiele umbedingt das oben genannte Buch aufsuchen.
Ich hoffe, dass ich euch zumindest ein wenig für die rhetorische Kunst des Mentalismus beigeistern konnte!

  1. „Cold Reading“, Wikipedia, 20. Dezember 2024, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Cold_Reading&oldid=247406328

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